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Was, wenn der Klimawandel gar nicht unser Hauptproblem ist?

Carolin Kunz

Der Klimawandel ist mittlerweile voll in den Medien, im Bewusstsein, spürbar im Jetzt und Hier angekommen. Wir merken: Er wird das Leben auf dem gesamten Planeten zunehmend ungemütlich, regional sogar unmöglich machen. Unsere Bemühungen, ihn einzugrenzen, sind wichtig. Was aber, wenn er gar nicht das Hauptproblem ist? Wenn er letztendlich nur darüber entscheidet, ob es bei unserem Aussterben ein bisschen wärmer oder kälter ist, wenn wir der eigentlichen Krise nicht Herr werden?

Der Klimawandel entscheidet darüber, wie wir in Zukunft leben. Die Biodiversitätskrise entscheidet darüber, ob wir überleben. Die nach aktuellem Forschungsstand größte Krise unserer Zeit ist der Verlust an Biodiversität. Sie vollzieht sich stiller, schleichender, hat aber noch gravierendere Auswirkungen. Biodiversität ist die Vielfalt des Lebens auf der Erde auf der Ebene von Genen, Arten und Ökosystemen. Dieses Netzwerk des Lebens um uns herum wird immer dünner: ¾ der Biomasse an Insekten haben wir schon verloren, Grundlage so vieler Prozesse und anderer Arten. Im morgendlichen Vogelkonzert fehlen viele Stimmen – 800 Mio. Singvögel gibt es weniger in Europa als noch vor 40 Jahren. 70 % der Bestände aller Wirbeltiere – Reptilien und Amphibien, Vögel und Säugetiere – haben wir in den letzten 50 Jahren weltweit vernichtet. Die meisten Arten sind noch da – sie sind aber sehr, sehr selten geworden. Die normale Aussterberate hat sich um den Faktor 1000 erhöht: Jeden Tag verschwinden rund 150 Tier- und Pflanzenarten unwiderruflich von unserem Planeten. Wissenschaftler*innen warnen: Wir stecken im größten Massensterben seit 66 Millionen Jahren. 1 Mio. Arten sind vom Aussterben bedroht, wenn wir so weitermachen wie bisher. Bei den Ökosystemen sieht es ähnlich aus: Wir müssen nicht erst in die Tropen schauen, wo 2022 pro Minute eine Fläche von 11 Fußballfeldern an Regenwald verschwand. Auch in der EU sind 81 % der geschützten Lebensräume in einem schlechten Zustand.

Was geht es uns an, wenn ein Käfer im Wald, ein Fisch im Ozean, ein Frosch im Amazonas verschwindet? Ganz einfach: Biodiversität ist die Basis für Ökosystemleistungen, die die Natur erbringt. Ohne Biodiversität gibt es kein frisches sauberes Wasser, keine fruchtbaren Böden, keine bestäubten Pflanzen. Ein paar Zahlen für alle, denen das Leben und Sterben der anderen Wesen egal ist: Der ökonomische Wert der Ökosystemleistungen ist doppelt so hoch wie das weltweite Bruttosozialprodukt. 60 % unserer Wirtschaftsleistungen hängen direkt oder indirekt von Leistungen der Natur ab. Wir sind maximal von ihnen abhängig und können sie entweder gar nicht oder nur schlecht und teuer ersetzen. Die Natur ist unser bester Dienstleister!

Jedoch wird es eng für unsere beste Verbündete. Weltweit sind nur noch 2 % der Erdoberfläche vom Menschen unberührt. Naturbelassene Flächen finden sich in ganz Mitteleuropa kaum noch. Mit 0,6 % Wildnisfläche belegt Deutschland den drittletzten Platz aller 27 EU-Staaten. Menschliche Ansiedlungen und die landwirtschaftliche Kultur dominieren unsere Landschaft. Siedlungen fressen sich ins Umland, für Logistikzentren, Industriegebiete und Einkaufsareale, Straßen und Parkplätze wurden und werden riesige Flächen versiegelt. Durch die fortschreitende Bebauung gingen Lebensräume ebenso verloren wie durch den Verlust an Landschaftselementen. Die Bestellung der Felder mit riesigen Maschinen an leistungsfähigen Traktoren hat dazu geführt, dass Hecken und Gehölzgruppen in freier Natur weichen mussten, während Bodenwellen oder –senken eingeebnet wurden. Die industrielle Landwirtschaft mit monotonen Kulturen auf riesigen Feldern und dem fatalen Einsatz von Pestiziden hat die Zahl der Organismen auf dramatische Weise verringert.

Auf den ausgeräumten Flächen der industriellen Landwirtschaft finden Tiere und Wildpflanzen kaum noch Lebensraum. Städte sind daher zu Rückzugsorten für viele Arten und Hot Spots der Biodiversität geworden.

Aber auch die Städte werden immer lebensfeindlicher. Durch neue Wohn- und Gewerbegebiete wird immer mehr Boden versiegelt. Der Nachverdichtung fallen viele alte Gärten zum Opfer. Es gibt kaum noch Raum, der nicht von uns „genutzt“ wird und sich selbst und der Natur überlassen bleibt, wie das beliebte Wildniseck im Katharinenviertel zeigt, das ein Spielplatz werden soll.

Mit dem Schwund der Lebensräume in Wald und Feld ziehen sich inzwischen immer mehr Tiere in die Gärten zurück, die unterschiedliche Strukturen auf kleiner Fläche bieten.

Aber auch das Gesicht der Gärten hat sich in den letzten Jahren sehr gewandelt, von der bunten Vielfalt früherer Zier- und Nutzgärten hin zu vermeintlich pflegeleichten „Gärten des Grauens“. Hecken wurden durch Plastikzäune ersetzt, Vorgärten zu Parkplätzen gepflastert, Rollrasen lässt nicht ein Gänseblümchen aufkommen, Kiesbeete, Koniferen und sterile exotische Pflanzen bieten keinen Nutzen für die heimische Tierwelt – viele heutige Gärten sind klinisch tot. In unserem Ordnungswahn wird alles aufgeräumt, kurz rasiert, quadratisch-praktisch-gut in geometrische Form geschnitten. Motorgeräte wie Rasentrimmer, Heckenscheren und Laubbläser haben den Vernichtungsfeldzug gegen die Natur ungemein erleichtert. Praktische Mähroboter zersäbeln praktischerweise gleich auch noch die „ständig kackenden“ Igel – „Pech gehabt, wer nicht wegläuft“, habe ich dazu von einem Nachbarn gehört. Hecken werden zu jeder Jahreszeit stark gestutzt, ohne Rücksicht auf brütende Vögel.

Mit unseren leistungsstarken Maschinen haben wir den Kampf gegen die Natur fast gewonnen, schädigen dabei aber letztendlich uns selbst. Neben der optischen Verarmung leiden das städtische Mikroklima, die Gesundheit und nicht zuletzt unsere eigene Lebensqualität, denn diese hängt sehr davon ab, wie es den anderen Lebewesen um uns herum geht.

Zwei Probleme. Eine Ursache. Eine Lösung!

Überschreitung der globalen Belastungsgrenzen in verschiedenen Sektoren.

Klimakrise und massenhaftes Artensterben: Zwei Krisen, die menschengemacht sind, sich gegenseitig bedingen und verschärfen und das Potenzial haben, das Leben auf der Erde weitestgehend zu vernichten – nicht nur das der anderen, auch unseres! Die gemeinsame Ursache: unsere Art der Landnutzung und unser Umgang mit der natürlichen Umwelt.

Daher gibt es auf beide Krisen eine einfache, naheliegende und effektive Antwort: Der Natur wieder mehr Raum geben! Mehr Wildnis wagen. Das vielfältige Leben um uns herum fördern, statt ihm weiter die Grundlage zu entziehen!

Der Wahnsinn dabei: Auf wissenschaftlicher und politischer Ebene ist das klar erkannt. Es gibt überall solche Ziele, es gibt den Welt-Biodiversitätsrat, das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie. Die Politik weiß, wie wichtig es ist, die Vielfalt des Lebens auf der Erde zu erhalten.

Auch das 84-seitige Strategiepapier und das Klimaanpassungskonzept der Stadt Osnabrück sehen eine Vielzahl an Maßnahmen vor, um grüne Freiräume zu schaffen und aufzuwerten, Flächen zu entsiegeln und durch mehr Stadtgrün Klimaresilienz und Biodiversität zu fördern. Wir wissen: Die Stadt der Zukunft muss „grüner“ werden, der Trend zu sterilen Gärten und Pflanzen muss sich umkehren. Wir brauchen mehr Stadtnatur als Schutz vor Wetterextremen und Gesundheitsbelastungen und als Gegengewicht zur zunehmenden Verdichtung.

Jedoch: All diese Ziele sind nicht verbindlich. Und so wird in den meisten Einzelfällen weiterhin das Gegenteil gemacht. Die Grünen Finger werden weiter angenagt, der Neumarkt wird wieder als Betonwüste geplant, die VHS hat eine „moderne“ (und kostspielige) Betonoptik bekommen, es werden weiterhin Bäume für Bauvorhaben geopfert und grüne Oasen in Spielplätze umgewandelt.

Denn der Haken an der einfachen Antwort:  Mit „Natur Natur sein lassen“ lässt sich nichts verdienen! Im Gegenteil, Renaturierung kostet Geld (und Flächen, die man so schön gewinnbringend nutzen könnte). Mit Technologien gegen den Klimawandel lässt sich dagegen eine Menge Profit machen, genauso wie auch mit neuen Bau- und Gewerbeprojekten. Wann werden wir verstehen, dass wir Teil des Netzwerks des Lebens sind (übrigens ein nicht systemrelevanter Teil!) und nur das Wohlergehen aller Lebensformen unser Wohlergehen sichert?

Die Natur - und nur sie - kann uns helfen! Kümmern wir uns nicht um die Biodiversität, werden Trinkwasser und Nahrung immer knapper, Naturkatastrophen immer heftiger.

Um dem Grau und Gedränge der Stadt zu entfliehen, fahren wir in Urlaub. Wohin? Natürlich an Orte mit kraftvoller Natur, wo wir entspannen und neue Energie tanken können…

Muss das so sein und bleiben? Oder wollen wir uns – und anderen Arten – ein Art-gerechtes Leben in unserem täglichen Lebensumfeld schaffen? Die Welt können wir nicht retten, aber hier bei uns vor Ort mit kleinen Veränderungen viel bewirken. Wie wär es, wenn wir gemeinsam eine grüne, blühende, klimaresiliente und lebendige Stadt mit Urlaubsflair gestalten, in der alles Leben gut leben kann?

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